Ein aktueller Amnesty-Bericht rückt die psychische Gesundheit der Bevölkerung Sierra Leones in den Vordergrund.
Die Bevölkerung Sierra Leones war mehrfach traumatischen Ereignissen ausgesetzt. Von 1991 bis 2002 herrschte ein Bürgerkrieg, bei dem mehrere Zehntausend Zivilpersonen ums Leben kamen und mehr als zwei Millionen Menschen vertrieben wurden. Von 2014 bis 2016 traf die bislang schwerste Ebola-Epidemie seit der Entdeckung des Virus das Land schwer.
Krieg und Ebola
Während des Bürgerkriegs führten alle Kriegsparteien einen sehr brutalen Krieg und es kam zu zahlreichen Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte – einschließlich Massentötungen, Entführungen, Vergewaltigungen, sexueller Sklaverei, Verstümmelung sowie Rekrutierung und Einsatz von Kindern. Viele Menschen erlebten, dass ihre Häuser verbrannt oder Angehörige getötet wurden. Viele erlitten Todesangst während der Flucht oder waren brutalen Angriffen, einschließlich Amputationen, ausgesetzt.
Im Jahr 2014, als Sierra Leone nach wie vor mit den Folgen des Kriegs zu kämpfen hatte, brach Ebola aus. Die Epidemie dauerte bis 2016 an und forderte fast 4000 Todesopfer. Das eh schon schwache Gesundheitssystem erlitt einen schweren Schlag und viele Gesundheitsfachkräfte erlagen selbst der Krankheit.
Betroffene durchlitten große Angst, da sie andere um sie herum sterben sahen und nicht wussten, ob sie überleben würden. Andere erlitten tiefe Trauer durch den Verlust mehrerer Familienmitglieder. Viele Familien verloren ihre Hauptverdienenden und Risikogruppen, wie jugendliche Mädchen, wurden verstärkt ausgegrenzt und missbraucht.
Auch wenn diese Krisen überwunden sind, bleiben die psychischen Wunden weiterhin bestehen und werden zum Teil derzeit durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie wieder aufgerissen.
Langzeitfolgen
Zwischen November 2020 und Mai 2021 interviewte Amnesty 55 Personen, darunter 25 Sierra-Leoner_innen, die während des Kriegs direkter Gewalt ausgesetzt waren oder direkt von der Ebola-Epidemie betroffen waren, sowie Fachleute aus dem Gesundheitsbereich, Regierungsvertreter_innen, Mitglieder der Zivilgesellschaft und internationale Fachkräfte, um die Langzeitfolgen dieser Krisen zu analysieren. Zudem wurden weitere Studien zu diesem Thema ausgewertet.
Der Bericht basiert auf der WHO-Definition von psychischer Gesundheit. Demnach ist diese „ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.“
Zwar gibt es keine aktuellen Daten zur allgemeinen psychischen Gesundheitslage der Bevölkerung in Sierra Leone, doch die WHO schätzt, dass ein Fünftel aller Personen, die schwere Gewalt erleben, unter psychischen Problemen leiden. Hinzu kommt, dass Armut als starker Risikofaktor für psychische Probleme gilt.
Viele Menschen, die den Bürgerkrieg oder die Ebola-Epidemie erlebt haben, spüren nach wie vor eine starke emotionale Belastung, anhaltende körperliche Auswirkungen und wirtschaftliche Nachteile. Sie leiden häufig unter Trauer, Wutausbrüchen, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Alpträumen und intrusiven Gedanken.
Stigmatisierung und Diskriminierung
Zu den psychischen Problemen der Betroffenen kommen häufig Stigmatisierung und Diskriminierung hinzu. So wurden viele Ebola-Überlebende von ihrer Umgebung aus Angst vor Ansteckung ausgegrenzt.
Darüber hinaus kommt es häufig zu Missbrauch von Personen mit (vermeintlichen) psychischen Problemen, die zum Teil Hexerei durch andere Personen zugeschrieben oder als Bestrafung für böse Taten angesehen werden. Meist sind traditionelle Heiler_innen die erste Anlaufstelle betroffener Familien.
Schlechte Versorgungslage
Die Regierung hat durch verschiedene politische Maßnahmen und Strategien versucht, die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung zu verbessern. Häufig ist die Umsetzung jedoch schwierig und bislang ist selbst eine grundlegende Versorgung nicht gewährleistet.
Problematisch sind vor allem die unzureichende Finanzierung durch die Regierung und internationale Geldgeber. Viele Angebote von Nichtregierungsorganisationen und internationalen Hilfsorganisationen, die während der akuten Notlage bereitgestellt wurden, wurden eingestellt.
Ein weiteres zentrales Problem ist der Mangel an qualifiziertem Personal. In ganz Sierra Leone gibt es nur 3 Psychiater_innen und 20 Krankenschwestern und –pfleger im Bereich der psychischen Gesundheit für 7 Millionen Einwohner_innen. In Europa sind es im Schnitt 50 psychiatrische Fachkräfte pro 100 000 Einwohner_innen[1].
Rechtlicher Rahmen
Die noch aus der Kolonialzeit stammende, diskriminierende Gesetzgebung zur Regelung des Umgangs mit psychisch Kranken (der sog. „Lunacy Act“) wird aktuell überarbeitet. Bei bisherigen Versuchen, das Gesetz zu reformieren kam es jedoch mehrfach zu Verzögerungen.
Regionale und internationale Verträge verpflichten Sierra Leone dazu, hohe Standards im Bereich der psychischen Gesundheit einzuhalten, zu schützen und zu erfüllen. Reichere Länder stehen in der Pflicht, hier Unterstützung zu leisten, um das Recht auf Gesundheit zu wahren.
Weltweit wird nur ca. 1 % der Entwicklungshilfe im Gesundheitsbereich für die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung ausgegeben. Diese mangelnde Priorisierung führt dazu, dass dieses Grundrecht missachtet wird und Personen mit psychischen Problemen ausgegrenzt werden. Zudem sind die soziökonomischen Folgen weitreichend, da durch die Behandlung von psychischen Erkrankungen die Gesundheit und Produktivität der Bevölkerung deutlich gesteigert werden können.
Was ihr tun könnt
Wir bitte euch um Unterstützung, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Hier findet ihr einen einen Musterbrief an die sierra-leonische Regierung und an den Botschafter und hier eine Petitionsliste.
[1] https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/404853/MNH_FactSheet_DE.pdf